Berns Quartiere leben

Im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe StadTisch hat uns das Kompetenzzentrum öffentlicher Raum Bern KORA mit dem E-Bike durch die Bundesstadt geführt. Vier Stationen, vier eindrückliche Stadtentwicklungsprojekte.

Mit dem spätsommerlichen Fahrtwind in den Haaren pedalen wir von einem Elektromotor unterstützt gemütlich durch die Berner Quartiere. Dieser vielleicht letzte und auch etwas unverhoffte Sommerabend lockt die Menschen nach draussen und taucht die Strassen in eine lebendige Atmosphäre. Stimmengewirr, Gläserklirren, hin und wieder ein fröhlich quiekendes Kind: Die städtische Stimmung könnte für unseren Ausflug nicht passender sein.

Wir dürfen mit dem Kompetenzzentrum öffentlicher Raum Bern (das sind die mit den roten Stühlen) ihre aktuellen Stadtentwicklungsprojekte besuchen. Als «einen Stern am Horizont» bezeichnet Raimund Kemper, Mitorganisator und Vorstandsmitglied der Plattform GSR, das Kompetenzzentrum und schraubt die Erwartungen gleich zu Beginn noch eine Stufe höher.

Und die bunt gemischte Gruppe der Teilnehmenden wird nicht enttäuscht: KORA-Geschäftsleiterin Claudia Luder und Petra Stocker von der Verkehrsplanung Bern führen uns durch die Stadt an vier Orte der lernenden Entwicklung, die uns immer wieder in Staunen versetzen. Das war unsere Tour de Berne:


1. Blaue Würmer und bunte Kreise im Länggassquartier

In der ersten grossen Begegnungszone auf unserer Feierabendfahrt kommt alles zusammen: Eine Quartierkreuzung mit einem grossen Schulhaus, Velo- und Schulwegen, Entsorgung, Autos. Eine Dönerbude, die sich die Veloparkplätze mit Plastikstühlen angeeignet hat. «Hier sind ziemlich alle Ecken frequentiert», eröffnet Petra Stocker von der Verkehrsplanung Bern den Abend.

Dieser Ort mit Tempo 20 sucht noch, was er sein will. Die Entwicklung verlaufe nicht linear, sondern sei immer im Wandel, erzählt Claudia Luder, Geschäftsleiterin KORA. Durch Partizipation und Austausch mit der Bevölkerung haben sich im Prozess Brennpunkte herauskristallisiert: Zum Beispiel der Wunsch, dass der Fussverkehr Vortritt haben soll.

Zu diesem Zweck hat KORA erst letzte Woche mit biologisch abbaubarer Lehmfarbe den Boden bemalt. Das Projekt sei eine Anomalie, erfahre aber Rückhalt aus der Bevölkerung. «Der Rückhalt hilft in der Diskussion mit Interessengruppen – hier mussten wir zum Beispiel zugunsten des Fussverkehrs die Velostrasse unterbrechen», erklärt Luder.

Ob der Ort mehr sein wird als eine Kreuzung, wird sich noch herausstellen müssen. «Es ist ein lernender Prozess. ‘Nicht lange diskutieren, sondern einfach probieren’, das ist unser Grundsatz.» Die Bevölkerung werde von KORA jedenfalls bei der Aneignung und Nutzung unterstützt. Das Kompetenzzentrum definiert sich als Plattform, auf der sich die Nutzer:innen des öffentlichen Raums sowie Fachleute der Verwaltung treffen.

2. «Das wurde imfall für uns Kinder gebaut»

Wir fahren mit der tiefstehenden Sonne am Horizont in den Westen Berns zum Schulhaus Schwabgut in Bern Bümpliz. Auf der mit einem Blätterdach überzogenen Strasse vor dem Schulgebäude stehen Pflanzenkästen und ein mobiler Pumptrack.

«Hier gab es zuvor viele Parkplätze und die Strasse war stark frequentiert mit Elterntaxis. Die Signaletik hat nicht wie gewünscht funktioniert. Es kam immer wieder zu gefährlichen Situationen, worauf die Schule mit dem Wunsch nach Veränderung auf uns zukam», erzählt Petra Stocker.

Da die Strasse für die Installation von Fernwärme sowieso irgendwann aufgerissen werde, dürfe sie in der Zwischennutzung nun «deutlich etwas anderes werden». Die aufgestellten mobilen Elemente sollen Aufenthalt und Spiel ermöglichen.

Und da die Fernwärme-Installation noch ein wenig auf sich warten lässt, kann die Strasse im Idealfall später sogar ganz der Schule übergeben werden. Auch hier: Eine testende Entwicklung.

Hier im Bümpliz-Quartier sei der Prozess der Aneignung ein völlig anderer. «Da man solche Begegnungszonen nicht so kennt wie beispielsweise in der Länggasse, dauert es etwas länger, bis die Kinder merken, ‘hey, ich kann hier jetzt einfach auf die Strasse und mich frei bewegen’» erzählt Petra Stocker. Dabei wird sie immer wieder von einem lauten Rattern unterbrochen: Die Pumptrack hinter uns ist an diesem Mittwochabend voll mit Kindern auf ihren Trottinetts. Wir sind etwas zu nahe dran und bekommen dies gleich zu hören: «Das wurde imfall für uns Kinder gebaut!»

3. Eine temporäre Idee schmückt nun die Tramstation

Auf der nächsten Etappe unserer Tour de Berne plaudern die Teilnehmenden auf ihren E-Bikes über die gewonnenen Eindrücke. «Diese Pumptracks sind ein Wunderwerk: Sobald die letzte Schraube eingedreht ist, strömen die Kinder aus den Häusergassen und rattern mit ihren Fahrzeugen begeistert drüber», erzählt Johannes Küng über ein früheres Projekt in Opfikon. Er ist soziokultureller Animator und Mitglied der Plattform GSR, die den Abend organisiert hat.

Wir kommen bereits bei der nächsten Station an: Ein künstlerischer Gehweg in allen Farben und Formen zieht sich entlang eines begrünten Tramgleises in die Abendsonne. Der mit den gleichen Lehmfarben wie beim ersten Halt bemalte Abschnitt entsprang der WEURO 2025 (Fussball-Europameisterschaft der Frauen). «Das Ziel war, dass sich junge Frauen mit Ideen zum öffentlichen Raum einbringen», so Claudia Luder. Also hat KORA einen Wettbewerb ausgeschrieben.

Zusammen mit YB-Spielerinnen haben Künstler:innen mehrere Wege, die zum Berner Wankdorf-Stadion führen, farbig bemalt. So sollten sich die jungen Frauen den öffentlichen Raum aneignen.

Was als temporäres WEURO-Projekt gedacht war, wird nun von der Bevölkerung eingefordert: «Als die Bemalung entfernt werden sollte, wurden Stimmen laut, dass die Wege so belassen werden sollen», erzählt Luder.

«Wir starten keine Projekte von uns aus», so die Geschäftsleiterin weiter. Inzwischen sei das Kompetenzzentrum in der Berner Bevölkerung bis zu einem gewissen Grad bekannt und die Anliegen kommen direkt von den Bewohnerinnen und Bewohnern oder über einen Vermittlerkanal. Immer wieder komme es auch vor, dass städtische Projektleitende KORA kontaktierten. «Die Leute kommen mit einem Problem zu uns, wir analysieren, wie man damit umgehen könnte, und testen im engen Austausch mit den Beteiligten Lösungen.»

4. «Der Sockel»

Bei der letzten Station angekommen, hat der Horizont die Sonne inzwischen gänzlich verschluckt. In der Dämmerung verleihen die Lichterketten der mobilen Tanzfläche vor uns die Atmosphäre einer Manege. «Der Sockel» ist ein dreimonatiges Sommerprojekt, das in diesem Jahr auf dem Ansermetplatz einen Platz gefunden hat.

Es ist eine Bühne für Kultur, Spiel und Begegnung. «Mittwoch ist Rollschuhabend», erzählt Claudia Luder. Le Rolljulien vermietet und verkauft stylishe Retro-Schuhe. Drei rot und türkis gefärbte Container stehen auf dem Areal, damit das Material versorgt werden kann. Die Veranstaltungsbewilligung für den Sockel gilt für drei Monate – für längere Projekte würde eine Baubewilligung nötig. Es ist ein immer wieder auftauchendes Muster bei KORA: Die 90-tägige Testphase von mobilen Elementen.

Das Spezielle am Sockel: Die Menschen können hier niederschwellig eigene Events veranstalten. «Die Bevölkerung nimmt den Sockel stark an. Sie ist sehr dankbar dafür», sagt Luder mit einem Leuchten in den Augen. «Beim Sockel kann man in der Praxis eigentlich alles in Anwendung miterleben, was aus der Theorie bereits bekannt ist.»

Auf der Tanzfläche hinter Luder quirlen mehrere Kinder auf Rollschuhen über den Holzboden. Sie sind in ihrem Element. Dazwischen schwebt eine Frau und übt Pirouetten. Auf dem Rand der türkisen Anlage sitzen die Eltern, vertieft in Gespräche. Gelächter und fröhlich kreischende Kinder bilden die Geräuschkulisse.

Die Lichterkette taucht die Szenerie in eine romantische Stimmung. Es ist wieder der passende Abschluss für unsere Sommerabendtour mit KORA. Hier in Bern wird ersichtlich, was ambitionierte Raumentwicklung bewirken kann: Die Bevölkerung und KORA hauchen den grauen Ecken der Stadt wieder Leben ein.


Plattform GSR: Aktives interdisziplinäres Netzwerk

Der Verein Plattform GSR vernetzt engagierte Menschen der Gemeinde, Stadt- und Regionalentwicklung. Wir setzen uns ein für lebendige Quartiere, eine nachhaltige Zukunft und die Partizipation der Bevölkerung. «Wir wollen die Vision der integralen Stadtentwicklung erlebbar machen und voranbringen», sagt Miriam Meuth, Verantwortliche für den MAS Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung der Hochschule Luzern und Vorständin der Plattform GSR. «Wir legen grossen Wert auf Interdisziplinarität – Fachpersonen jeglicher Couleur sind willkommen. Hier fängt die Zusammenarbeit an!»

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